Holzrausch in Kalifornien: Die Redwood-Holzfäller von Humboldt County (2024)

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Am 10. Dezember 1997 stieg Julia Hill auf einen Baum. Die 23-Jährige aus Kalifornien hatte sich bis zu diesem Tag mit verschiedenen Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, hatte gekellnert, für einen Versandhauskatalog gemodelt, war in einem Wohnwagen umhergezogen. Nun wohnte sie unter einer grünen Plastikplane in rund 55 Metern Höhe auf einem Baum. Sie aß dort, schlief dort, schrieb Gedichte und Briefe oder telefonierte - ohne je von ihrer Plattform im Wipfel herabzusteigen. Nicht einmal zum Waschen oder für den Gang zur Toilette kehrte sie auf die Erde zurück.

Julia liebte diesen Baum. Dort oben, so würde sie später sagen, habe sie überhaupt erst gelernt, was Liebe ist - die Liebe für alles Lebendige und besonders diesen Baum, der in einem Wald nördlich von San Francisco rund 20 Kilometer von der kalifornischen Küste entfernt nahe Stafford stand. Ein rund 1000 Jahre alter Redwood, ein Küstenmammutbaum, etwa 65 Meter hoch und an seiner stärksten Stelle fünf Meter dick. Seine Rinde fühlte sich "weich und haarig" an, als würde man "einen Hund streicheln", hatte die junge Frau in einem Interview dem "Tagesspiegel" erklärt. Bei klarer Sicht konnte sie vom Wipfel aus über den Wald hinweg das Meer sehen.

Die Begeisterung der Kalifornier für ihre Mammutbäume hatte eine lange Tradition. Goldsucher hatten die gigantischen Zypressengewächse, die ältesten und höchsten Bäume der Erde, im 19. Jahrhundert entdeckt. Die Urwälder der Redwoods entlang der nordkalifornischen Pazifikküste begannen südlich von San Francisco und bedeckten bis weit hinauf nach Oregon mehr als 8000 Quadratkilometer Land. Sie nutzbar zu machen wurde Mitte des Jahrhunderts zu einer der größten Herausforderungen an der Westküste. Vor allem Einwanderer aus Europa zog es in Kaliforniens Wälder, um ihr Glück in einem der lukrativsten und abenteuerlichsten Berufe jener Zeit zu suchen - als Holzfäller.

Holzrausch

"Rotes Gold" hatten seine Entdecker das Holz der manchmal mehr als 110 Meter hohen Küstenmammutbäume genannt, deren Wert den Vergleich mit dem glänzenden Edelmetall durchaus rechtfertigte: Das rötliche Hartholz erwies sich als äußerst beständig und damit bestens als Baumaterial geeignet. Ebenso schwierig wie eine Goldlagerstätte zu erschließen war es allerdings auch, das begehrte Holz unversehrt aus den Wäldern zu holen und dorthin zu bringen, wo es gebraucht wurde.

James T. Rayn nahm als einer der Ersten die Herausforderung an: Der irische Einwanderer war ursprünglich wegen des Goldes nach Kalifornien gekommen. Dann aber kaufte er 1852 ein Dampfschiff und errichtete zusammen mit seinem Geschäftspartner James Duff die erste erfolgreiche Sägemühle in der nordkalifornischen Humboldt Bay.

Die Saison der Holzfäller begann für gewöhnlich kurz nach Jahresbeginn. In Gruppen von einem Dutzend oder auch mehr Männern zogen die Trupps mit Sägen und Äxten in den Wald, wo sie zunächst ihr Camp für die kommenden Wochen und Monate einrichteten.

Am Fuß der Riesen

Der wichtigste Mann jeder Truppe war der Koch, denn er hatte nicht nur für die Verpflegung, sondern auch für die gute Stimmung zu sorgen. Hilfreich war, wenn er auch ein Musikinstrument beherrschte, singen oder tanzen konnte. Er verwaltete zudem die Tabak- und Alkoholvorräte und verkaufte den Männern bei Bedarf Socken, Hemden und was sie sonst noch brauchten. Wenn es Streit gab - egal, ob wegen der Arbeit oder der Liebe - vermittelte er als Schlichter.

Die eigentliche Arbeit koordinierte der Chefholzfäller. Er entschied, in welcher Reihenfolge die Baumriesen umgelegt werden sollten - und wohin. Die Bestimmung der Fallrichtung war entscheidend: Sie verlangte gutes Augenmaß und Präzision, damit keiner der enormen Bäume Schaden anrichtete oder beim Umsturz zerbrach. Ein einziger Fehler konnte die Männer den kompletten Monatslohn kosten.

Bevor sie ihre mehr als drei Meter langen Sägen und die mehrere Kilogramm schweren Äxte ansetzten, zimmerten sie sich zunächst ein Podest an den ausgewählten Stamm, von dem aus sie die ideale Schnitthöhe - meist zwei, drei Meter über der Erde - erreichen konnten.

Lag der Stamm dann am Boden, wurde seine Struktur begutachtet, festgelegt, an welchen Stellen er zerlegt werden sollte, und wurde die Rinde entfernt. Erst danach war er transportbereit - womit die eigentlich schwierigste Aufgabe begann: Aufgestockt auf 40 bis 60 Mann mussten die Crews zunächst die Straßen und Wege bauen, auf denen Ochsen und Kaltblüter das Holz mit Beginn des Frühlings zu den Sägemühlen schleppten.

Siegerpose

Der Holzeinschlag in den Mammutwäldern erforderte erfahrene Arbeitskräfte. Viele von denen, die dort einen Job gefunden hatten, siedelten sich dauerhaft in Humboldt County an. Entlang der Küste entstanden zahlreiche Sägewerke, und der Bedarf an Bauholz wuchs noch, nachdem ein heftiges Erdbeben und dadurch ausgelöste Brände 1906 San Francisco zerstört hatte.

Auch der Schwede Augustus William Ericson war ursprünglich wegen der Holzindustrie an die kalifornische Küste gekommen. Den Job in der Holzverarbeitung hatte er jedoch nach einigen Jahren aufgegeben und stattdessen mehrere Geschäfte eröffnet, darunter eines für Fotografie, in dem er Aufnahmen von Landschaften und lokalen Firmen verkaufte.

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Bald schon wollten sich auch die Bürger von Humboldt County von Fotograf Ericson porträtieren lassen: Männer mit gigantischen Sägen und Äxten, Kinder im Sonntagskleid und sogar ganze Hochzeitsgesellschaften - aufgereiht auf einem zehn oder zwölf Meter durchmessenen Wurzelstumpf, lässig gegen einen am Boden liegenden Baumriesen gelehnt oder in einer Art Siegerpose, mit weit ausgestelltem Bein, die Hände auf die Hüften gestützt. Mann gegen Baum, David gegen Goliath - das in etwa sagten diese Bilder.

So ohnmächtig und winzig der Einzelne am Fuß der bis zu 2000 Jahre alten Rothölzer wirkte, so stolz präsentierten sich die Neu-Kalifornier nun zwischen haushohen Holzscheiben und Sägespänen. Die Wildnis galt als bezwungen, die Natur war besiegt.

Mit den Jahren wurde die Arbeit leichter: Eisenbahnstrecken wurden gebaut, Züge transportierten die schweren Stämme über weite Entfernungen. Dampfbetriebene Seilwinden und Traktoren lösten die Zugtiere ab. Ab den dreißiger Jahren kamen Motorsägen zum Einsatz, Bulldozer halfen beim Straßenbau, Schwerlaster pendelten zu den Sägewerken. Die Holzindustrie erlebte eine rasante Expansion, und mit der Industrialisierung setzte auch der Kahlschlag ein.

Kahlschlag

Wie das aussah, konnte Julia Hill, als sie Ende der neunziger Jahre im Wipfel ihres Mammutbaums hockte, aus nächster Nähe beobachten: Überall um sie herum fielen die Riesen krachend zu Boden. Immer näher kamen die kreischenden Kettensägen und die lärmenden Rotoren des Hubschraubers, der die Baumstämme von den Steilhängen holte.

Der Baum, auf dem Julia Hill seit dem 10. Dezember 1997 saß, gehörte der Pacific Lumber Company, einer der ältesten Holzgesellschaften Kaliforniens und der damals größte private Arbeitgeber von Humboldt County. Julia hatte den Redwood besetzt, um mit Aktivisten der Umweltgruppe Earth First! gegen die massive Abholzung zu protestieren.

Julia wollte ihn vor den Sägen der Pacific Lumber retten. Ein paar Wochen, so hatte sie gerechnet, würde sie dort oben bleiben müssen. Die Verhandlungen der Naturschützer mit der Firma verliefen jedoch zäh. Schließlich willigte Pacific Lumber ein - gegen eine Zahlung von 50.000 Dollar Entschädigung seitens der Umweltaktivisten für die entgangenen Einnahmen. An einem 18. Dezember stieg Julia von ihrem Baum herab. Mittlerweile war sie 25. Zwei Jahre lang hatte sie in dem Wipfel gesessen.

Bis zu diesem Zeitpunkt, so schätzten die Naturschützer damals, waren 97 Prozent der Redwood-Urwälder vernichtet.

Zum Weiterlesen:

Edwin C. Bearss: "Redwood National Park - History Basic Data", 1969.
Julia Butterfly Hill: "Die Botschaft der Baumfrau". Goldmann Verlag, München 2000, 254 Seiten.

Holzrausch in Kalifornien: Die Redwood-Holzfäller von Humboldt County (2024)

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